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Ist Europa auf dem Holzweg?

Webinar zum skandalösen EuGH-Urteil "Henry am Zug".
Unter dem Titel „Europa auf dem Holzweg? Das EuGH Urteil Dobersberger „Henry am Zug“ fand das Webinar, organisiert von Gewerkschaft vida, Arbeiterkammer Wien, Europäischer Transportarbeiter-Föderation ETF und Friedrich-Ebert-Stiftung, statt. 
 
Im Fokus der Veranstaltung stand das Urteil des Europäischen Gerichtshofs C-16/18 vom 19.12.2019. Der Schutz der grenzüberschreitend Beschäftigten durch die Entsenderichtlinie, gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort, wurde hier ausgehebelt. Das Urteil besagt, dass Beschäftigte im Catering und in der Reinigung auf grenzüberschreitenden Zügen nicht unter den Schutz der Entsenderichtlinie fallen. Offen bleibt, inwieweit Zugpersonal und andere grenzüberschreitend Beschäftigte von der Entsenderichtlinie zukünftig ausgenommen werden können. „Es war unerhörte Praxis, ungarische Beschäftigte auf österreichischen Zügen bis nach Deutschland zu entsenden und dafür ungarische Löhne zu zahlen“, sagt Gerhard Tauchner von der Gewerkschaft vida. „Vor allem ist es bedenklich, dass der EuGH dieses arbeitnehmerfeindliche Urteil gefällt hat. Die Rechte der Beschäftigten werden damit weiter ausgehöhlt, Lohn- und Sozialdumping wird Vorschub geleistet. Solche Urteile befeuern nationalistische Strömungen und wirken der Weiterentwicklung des so wichtigen sozialen Europas leider vollkommen entgegen.“
 

EuGH-Entscheidung nicht nachvollziehbar

Das Catering-Unternehmen „Henry am Zug“ war von 2012 bis 2016 auf der Strecke zwischen Budapest und München auf ÖBB-Zügen im Einsatz. Ungarische Arbeitskräfte wurden durch den Aufbau von speziellen Firmenkonstruktionen (Gründung eines Subunternehmens in Ungarn, Zusammenarbeit mit Leiharbeitsfirmen) mit Löhnen weit unter dem österreichischen Kollektivvertrag entsendet. „Die nach ungarischem Recht Beschäftigten verdienten mit 500 Euro um rund 1000 Euro weniger als ihre österreichischen KollegInnen, obwohl sie den Großteil ihrer Tätigkeit in Österreich ausübten“, erklärte Tauchner auch im Webinar, „sie versahen ihren Dienst oft in gemeinsamen Teams“.  Der österreichische Geschäftsführer wurde in Österreich zu hohen Strafen verurteilt, doch durch wiederholte Berufung landete der Fall letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof. Dieser stellte in seinem Urteil fest, dass es bei Diensten in internationalen Zügen keine hinreichende Verbindung zum Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, der vom Zug durchquert wird, gibt. Dass im Fall „Henry am Zug“ keine ausreichende Verbindung zu Österreich bestand, ist nicht nur für Tauchner nicht nachvollziehbar, denn das Bordservice wurde in Zügen der ÖBB und im überwiegenden Ausmaß in Österreich erbracht. Besonders alarmierend an diesem Urteil ist auch die Tatsache, dass die angegebenen Sachverhaltsdarstellungen der Verfahrenspartei nicht überprüft wurden und damit das Urteil auf falschen Darstellungen aufgebaut wurde.

 

Auf die Begrüßung durch vida-Chef Roman Hebenstreit und Günter Blumthaler, dem Vorsitzenden des Fachbereichs Eisenbahn in der Gewerkschaft vida, folgten juristische Analysen von Walter Gagawczuk, Arbeitsrechtsexperte der Bundesarbeitskammer, Michaela Windisch-Graetz, Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien, Diana Niksova, Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Salzburg sowie Susanne Wixforth, Referatsleiterin in der Abteilung internationale und europäische Gewerkschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes/DGB.

Im zweiten Teil des Webinars führten Gerhard Tauchner, vida-Vertreter im Sozialen Dialog Eisenbahn auf europäischer Ebene für die ETF, Zentralbetriebsratsvorsitzender der ÖBB-Produktion, Leiter des Ausschusses Wettbewerb und Internationales in der vida, Robert Zlati, stellvertretender Vorsitzender der Eisenbahngewerkschaft Ungarn VSZ und Vize-Präsident der Sektion Eisenbahn in der ETF, Christina Tilling, Politische Sekretärin im Bereich Straße in der Europäischen Transportarbeitergewerkschaft ETF, Leiterin der Task-Force zum Thema Entsendung in der ETF und im Management Bord der Europäischen Arbeitsbehörde als Vertreterin ETF, sowie Walter Neubauer, Experte für Entsendung im Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend in der Abteilung Arbeitsrecht und Zentral-Arbeitsinspektorat eine spannende Diskussion. Sylvia Leodolter, Leiterin der Abteilung Umwelt und Verkehr in der AK Wien, gab abschließend auch noch einen Ausblick.

Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping 

Die ExpertInnen im Rahmen des Webinars waren sich einig: Das Urteil konterkariert das Ziel der Europäische Gesetzgebung mit der Entsenderichtlinie und zeigt die aktuelle Tendenz der europäischen Rechtsprechung, unternehmerische Freiheiten über soziale Rechte zu stellen.

Der Europäische Gewerkschaftsbund fordert die Einführung des sozialen Fortschrittprotokolls, mit dem soziale Grundrechte gegenüber Markfreiheiten besser gechützt bzw. gleichgestellt werden. Diese langjährige Forderung muss endlich umgesetzt werden. Für den Schutz der Beschäftigten in Europa kann auch die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) eine Rolle spielen, wenn sie in Verfahren des EuGH eingebunden wird. Auch bei der Kontrolle über die Einhaltung der ArbeitnehmerInnenrechte kann der Behörde eine entscheidende Rolle zukommen – fehlt es doch im Bahnverkehr bisher an Kontrollen der Arbeits- und Ruhezeiten. Darüber hinaus brauche es eine Bündelung der Kräfte im Kampf gegen Sozial- und Lohndumping im gesamten Verkehrssektor. Eine Vorreiterrolle könnte hier die Eisenbahn übernehmen. Da im Sektoralen Sozialen Dialog Eisenbahn die Gewerkschaften mit staatseigenen oder -nahen Unternehmen zusammenarbeiten, ist hier eine gute Voraussetzung gegeben, Verbesserungen für Beschäftigten in der Verkehrsbranche voranzubringen.

Wir brauchen klare Regeln, die die Beschäftigten schützen, keine Ausnahmen von der Gesetzgebung. Internationale Solidarität benötigen wir mehr denn je: Menschen und Länder dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern es braucht Löhne von denen man auch leben kann sowie gute Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaften in Europa sind stark, vor allem, wenn sie sich zusammentun, rund 4 Millionen Verkehrsbeschäftigte vertritt allein die ETF.