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Corona: Blick über die Grenzen

vida im Gespräch mit David Gobé von der französischen Gewerkschaft CGT.

Frankreich ist nach Italien und Spanien in Europa besonders von der Corona-Krise betroffen. Frankreichs größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, die CGT, hat für den gesamten April zum Streik aufgerufen. vida-Expertin Maria Rathgeb im Gespräch mit David Gobé, Internationaler Sekretär der CGT, über das „kranke“ Gesundheitssystem, die Entlohnung der „Heldinnen und Helden“ in systemrelevanten Berufen und die Herausforderungen für uns alle nach der Krise.

Maria Rathgeb: Wir sehen Bilder von Krankenhäusern, in denen das Personal ohne adäquater Schutzausrüstung unter sehr angespannten Bedingungen arbeiten muss. In welchem Zustand ist das französische Gesundheitssystem aktuell?

David Gobé: Mit einem Blick auf den Zustand der Gesundheitssysteme weltweit zählt das französische sicherlich noch zu den besten. Doch der Ausbruch der Corona-Krise hat auch in unseren Spitälern zum Notstand geführt. Das ist vor allem auch das Resultat einer organisierten Verknappung. Denn seit über 20 Jahren wird in Frankreich liberale Politik betrieben, in der die Medizin als „Business“ gesehen wird, also rentabel sein muss und auch dementsprechend verwaltet wird.

Maria Rathgeb: Was bedeutet „organisierte Verknappung“? Kannst du ein konkretes Beispiel nennen?

David Gobé: Wenn wir uns das Thema Schutzausrüstung ansehen, dann wird deutlich, dass wir keine Reserven mehr haben. Bis 2009 belief sich der staatlich verwaltete Bestand an chirurgischen Masken auf 1 Milliarde und bei FFP2-Masken auf 700 Millionen.  Derzeit gibt es nur noch über 145 Millionen chirurgische Masken. Die Anzahl der FFP2-Masken ist unbekannt, da 2013 die Zuständigkeit für die Erstellung von Lagerbeständen vom Staat an die Unternehmen übertragen wurde. Außerdem wurden innerhalb von 20 Jahren 100.000 Spitalsbetten abgebaut und damit Ausstattung, aber vor allem auch Arbeitsplätze gestrichen. Übrigens, das französische Sozialversicherungssystem ist vom Staatshaushalt getrennt. Die finanziellen Mittel werden über den Allgemeinen Sozialbeitrag der ArbeitnehmerInnen bereitgestellt.

Maria Rathgeb: CGT-Vorsitzender Philippe Martinez hat auf eurem Kongress im März Präsident Macrons Empfehlung, „Schulkinder müssen zur Verhinderung der Viruserkrankung ihre Hände mit Seife waschen“, kommentiert, dass das schlicht nicht möglich sei, denn zahlreiche Schulen können sich Seife einfach nicht leisten. Kannst du das näher erläutern?

David Gobé: Schulen sind – wie Krankenhäuser – ein einträglicher Markt für den privaten Sektor. Wenn der Minister den Kindern empfiehlt, sich die Hände zu waschen, brauchen sie zunächst Seife. Nun wurden aber im Zuge der Sparpolitik in vielen Schulen Zuschüsse für Hygienemaßnahmen oder Reinigungskräfte eingestellt. Wieder einmal werden Schulen wie Unternehmen geführt, was inakzeptabel ist.

Maria Rathgeb: In Österreich, aber auch in anderen Ländern wie in Frankreich, wird täglich applaudiert, um die HeldInnen in der Corona-Krise zu ehren. Ist ein Applaus ausreichend?

David Gobé: Wir werden uns jetzt bewusst, dass die systemerhaltenden Berufe jene sind, die am schlechtesten bezahlt werden. Wir fordern seit Jahren, dass die Gehälter von Beschäftigten, die im öffentlichen Bereich wie im Verkehr oder im Gesundheitssektor tätig sind, angehoben werden. Die Streiks der CGT für verbesserte Bedingungen wurden von den Medien nicht unterstützt, sogar negativ kommentiert, und jetzt „applaudieren“ wir jeden Abend um 20 Uhr, um die HeldInnen zu ehren?! Das ist zu wenig! Die Regierung hat eine Prämie in Höhe von 500 bis 1.500 Euro für den öffentlichen Dienst beschlossen, die steuer- und sozialversicherungsabgabenbefreit ist, wobei aber die Löhne und Gehälter seit sechs Jahren eingefroren sind. Darüber hinaus wirkt sich die Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen negativ auf die Finanzierung der Gesundheitsversorgung und des Pensionssystems aus.

Maria Rathgeb: Der Kampf der CGT um besseren Schutz für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurde aufgrund der Auswirkungen durch die Corona-Krise zum Klassenkampf. Kannst du uns mehr darüber berichten?

David Gobé: Die CGT hat zu einem Streik im öffentlichen Dienst aufgerufen, um Beschäftigte zu schützen, die nicht über die notwendige Schutzausrüstung verfügen. Es fehlen Masken, Desinfektionsmittel und Tests. Zudem will die Regierung den gesetzlichen Anspruch verbieten, die Arbeit bei Gesundheitsgefährdung einzustellen. Mitte April hat die französische Arbeitsministerin, ehemalige Personalchefin des Danone-Konzerns und Millionärin, einen Arbeitsinspektor entlassen, der Empfehlungen an Unternehmen versandt hatte. Eine dieser Empfehlungen untersagte Amazon die Lieferung von nicht-lebenswichtigen Waren. Das Arbeitsministerium übt auf die Arbeitsinspektoren massiv Druck aus, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen, auch wenn das für Beschäftigte bedeutet, dass sie Risiken eingehen müssen.

Maria Rathgeb: Blicken wir in die Zukunft, was werden die größten Herausforderungen nach der Corona-Krise sein?

David Gobé: Wir dürfen nicht auf den Tag danach warten, sondern müssen jetzt handeln! Die Arbeitgeber sind in die Offensive gegangen und haben soziale Errungenschaften infrage gestellt, wie etwa die Streichung von Urlauben oder die Erhöhung der Wochenarbeitszeit über die gesetzliche Arbeitszeit hinaus - 60 statt 35 Stunden - sowie die Lockerung der Nacht- und Sonntagsarbeit in systemrelevanten Berufen. Die CGT lehnt die vom Arbeitsgesetz abweichenden Maßnahmen zur Arbeitszeit ab und fordert die sofortige Aufhebung dieser Verordnungen.

Die ArbeitnehmerInnen zahlen in dieser Gesundheitskrise einen hohen Preis. Sie brauchen jetzt mehr denn je ihre Gewerkschaft an ihrer Seite. Wir alle brauchen gegenseitige Unterstützung und internationale Solidarität.

Vielen Dank für das Gespräch.

David Gobé ist Internationaler Sekretär der französischen Gewerkschaft CGT und Vorsitzender der Sektion Eisenbahn in der Internationalen Transportarbeiter Föderation ITF.